Heft 11/2023 (November 2023)

Räumung, Vollstreckungsschutz, Überzeugungsbildung des Gerichts

BGH, Beschluss vom 1.6.2023, I ZB 108/22

1. Nach den Grundsätzen der praktischen Konkordanz zwischen widerstreitenden Grundrechten kann die staatliche Aufgabe, das Leben des Schuldners zu schützen, regelmäßig nicht auf unbegrenzte Zeit durch ein Vollstreckungsverbot gelöst werden, weil dies mit den Grundrechten des Gläubigers auf Schutz seines und auf effektiven Rechtsschutz nicht zu vereinbaren wäre.

2. Das (Tat-)Gericht hat sich auch über die von einem Sachverständigen begutachteten Tatsachen eine eigene Überzeugung zu bilden.

(Leitsätze der Schriftleitung)

 

Intern. Zuständigkeit deutscher Insolvenzgerichte, center of main interest bei selbstständig gewerbl./freiberufl. tätigen natürlichen Person bei mehreren Niederlassungen

BGH, Beschluss vom 29.6.2023, IX ZB 35/22

Dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften werden gem. Art. 267 Abs. 1 lit. b, Abs. 3 AEUV folgende Fragen vorgelegt:

1. Ist Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 3 Satz 1 i.V. mit Art. 2 Nr. 10 der Verordnung (EU) 2015/848 des Europäischen Parlaments und des Rates der Europäischen Union vom 20.5.2015 über Insolvenzverfahren (fortan: Europäische Insolvenzverordnung - EuInsVO) dahin auszulegen, dass der Tätigkeitsort einer selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person auch dann eine Niederlassung darstellt, wenn die ausgeübte Tätigkeit keinen Einsatz von Personal undVermögenswerten voraussetzt?

2. Sofern Frage 1 verneint wird: Ist Art. 3 Abs.1 Unterabs. 3 Satz 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass dann, wenn eine selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätige natürliche Person keine Niederlassung i.S. von Art. 2 Nr. 10 EuInsVO unterhält, bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen derjenige Ort ist, an welchem die selbstständige gewerbliche oder freiberufliche Tätigkeit ausgeübt wird?

3. Sofern Frage 2 verneint wird: Ist Art. 3 Abs. 1 EuInsVO dahin auszulegen, dass bei einer selbstständig gewerblich oder freiberuflich tätigen natürlichen Person, die keine Niederlassung i.S. von Art. 2 Nr. 10 EuInsVO unterhält, gem. Art. 3 Abs. 1 Unterabs. 4 Satz 1 EuInsVO bis zum Beweis des Gegenteils vermutet wird, dass der Mittelpunkt ihrer hauptsächlichen Interessen der Ort ihres gewöhnlichen Aufenthalts ist?

 

Wertersatzverfall, Strafrechtsentschädigungsanspruch, Aufrechnung

BGH, Urteil vom 15.6.2023, III ZR 178/22


1. Zur Aufrechnung mit einer Forderung aus einem Wertersatzverfall gem. § 73, § 73a StGB aF (jetzt: Einziehung von Taterträgen) gegen einen Entschädigungsanspruch gem. § 2 StrEG.
2. Die Angleichung verschiedener Vollstreckungsverjährungsfristen mit unterschiedlicher Länge i.S. von § 79 Abs. 5 Satz 1 StGB entfällt nicht mit dem späteren Erlass der der längeren Frist zugrundeliegenden Strafe oder Maßnahme (entgegen OLG Ham- burg, Beschluss vom 1.11.2010, 2 Ws 53/10, wistra 2011, 152 ff.).

 

Aufhebung Erbbaurecht, Zustimmungserfordernis, Zweigrecht

OLG München, Beschluss vom 9.3.2023, 34 Wx 20/23


1. Wird ein auf einem Grundstück lastendes Erbbaurecht aufgehoben, beurteilt sich die Frage, ob es der Zustimmung des Berechtigten eines auf dem Erbbaurecht lastenden Zweigrechts bedarf, nach § 876 S. 1 BGB und nicht nach § 876 S. 2 BGB.
2. Diese Zustimmung ist jedoch entbehrlich, wenn das ein grundstücksgleiches Recht belastende Nutzungsrecht bereits vor der Aufhebung inhalts- und ranggleich auch auf dem Grundstück selbst lastet oder bei Aufhebung des grundstücksgleichen Rechts das frühere Nutzungsrecht inhalts- und ranggleich auf dem Grundstück selbst bestellt wird.
3. Die Ranggleichheit ist anhand eines konkretenVergleichs unter Berücksichtigung der im Falle einer Zwangsversteigerung vorhergehenden Rechte zu beurteilen.

 

Beschwerde gegen die Auswahl als Amtspfleger

OLG Saarbrücken, Beschluss vom 15.5.2023, 6 UF 60/23


Hat das Kind seinen tatsächlichen Aufenthalt i.S. des § 87c Abs. 3 S. 2 SGB VIII seit seiner Inobhutnahme in einer Jugendhilfeeinrichtung im Zuständigkeitsbereich eines Jugendamts, während sein gewöhnlicher Aufenthalt bei seinen Eltern in einem anderen Jugendamtsbezirk mangels absehbarer Rückkehrperspektive in der Folge der Inobhutnahme entfallen ist, so ist für die Pflegschaftszuständigkeit des Jugendamts der tatsächliche Aufenthalt des Kindes im Bezirk der Einrichtung maßgeblich, ohne dass dieser bereits zu seinem gewöhnlichen Aufenthalt geworden sein muss.

 

Auslegung, gemeinschaftliches Testament, Erbteile nach Köpfen

OLG Frankfurt a.M., Beschluss vom 27.6.2023, 21 W 52/23


1. Zur Auslegung einer Vor- und Nacherbschaft in einem gemeinschaftlichen Testament.
2. Die Einsetzung als Nacherbe beinhaltet im Zweifel die Einsetzung als Ersatzerbe.
3. Sind in einem Testament Neffen und Nichten namentlich, aber ohne Angaben von Quoten, als Erben eingesetzt, sind diese im Zweifel nach Kopfteilen erbberechtigt, sofern sich durch Auslegung nicht ein anderes ergibt. §§ 2066-2069 BGB sind nicht anwendbar.


(Leitsätze der Schriftleitung)

© Verlag Ernst und Werner Gieseking GmbH, 2024